Kleine Brust, keine Milch?
Meine Schwester hat Körbchengröße A und deswegen erst gar nicht gestillt. Sie hatte ein Leben lang zu hören bekommen: „Frauen mit kleiner Brust können nicht stillen. Da reicht die Milch auf gar keinen Fall“.
Ihr ahnt es schon, diese Aussage gehört in den Bereich der Ammenmärchen.
Ammenmärchen sind unwahre, erfundene Geschichten, die für einen naiven, leichtgläubigen Zuhörer gedacht sind. Historisch geht der Begriff aus dem 18. Jahrhundert zurück auf eine Angewohnheit der Ammen. Sie erzählten den von ihnen betreuten Kindern unglaubliche Geschichten bzw. Märchen, um die Kinder durch Sensationen zu unterhalten und durch Verängstigung zum Gehorsam zu erziehen.
Dagegen halten wir jetzt die Wissenschaft.
Die Größe der Brust korreliert nicht mit der Fähigkeit, stillen zu können. Wie viel Milch die Brust zu produzieren vermag, hängt vom Brustdrüsengewebe und den Hormonen ab. Und natürlich von einem guten Stillstart und einem sinnvollen Management im Anschluss.
Nur 1 - 4 % aller Frauen haben zu wenig Brustdrüsengewebe und dadurch zu wenig Milch. Und diese Frauen können gut erkannt werden. Oft leiden sie unter einem PCOS (Polycystischem Ovarsyndrom). Es kann auch eine andere Erkrankung vorhanden sein, die mit einer Hormonlage einhergeht, die ein ausreichendes Stillen nicht möglich macht. Das zu erkennen sind IBCLCs (medizinische Still- und Laktationsberater*innen) ausgebildet. Anamnese und Form der Brust lassen uns da eine gute Vorhersage treffen. Grundlegend ist: wenn sich Deine Brust in der Schwangerschaft um ca. eine Körbchengröße verdoppelt, dann ist üblicherweise alles so, wie es sein soll.
Also bedeutet eine kleine Brust nicht, dass ungenügend Brustdrüsengewebe vorhanden ist und eine große nicht das Gegenteil. Eine Brust besteht auch aus fett- und bindegewebigen Strukturen. Diese Anteile sind variabel.
Eine kleine Brust kann deutlich mehr Drüsengewebe haben als eine große. Und so kommt es auch auf die Speicherkapazität der Brust an, ob bei einer Stillmahlzeit ein oder immer zwei Brüste gegeben werden müssen. Grundlegend ist: zum Stillstart sollten in den ersten ein bis zwei Wochen immer beide Brüste angeboten werden, um die Milchbildung gut anzuregen. Danach ist entscheidend, wie das Trinkverhalten des Kindes und die Speicherkapazität der Frau sind. Also sehr individuell, ob ein oder zwei Brüste gegeben werden.
Werden immer zwei Brüste gegeben, obwohl die Mutter ganz viel Milch hat, könnte ein Kind auch unterernährt werden. Denn in diesem Fall wird das Baby immer die eher durstlöschende, wenig kalorienreiche Milch erhalten.
Eine Stillmahlzeit hat nämlich, im Gegensatz zu einer Formula Flaschenmahlzeit, eine „Chronologie“: zuerst kommt eine recht wasserhaltige Milch mit Mineralien und Milchzucker. Die löscht den Durst des Kindes und bringt schnell den Blutzucker nach oben. Im weiteren Verlauf wird die Milch immer reichhaltiger und fetter. Das hängt u.a. damit zusammen, dass die Fette in kleinen Kügelchen an der Innenwand der Brustdrüsenzelle hängen. Und je mehr sich diese Milchzelle ausdrückt, umso mehr Fett gelangt in die Milch. Also hat das Baby beim Stillen eine Vorspeise, ein Hauptgericht und ein wunderbares Dessert. Coole Sache – oder?
Fazit der Widerlegung dieses Ammenmärchens ist, die Größe der Brust sagt nichts über die Stillfähigkeit aus.
Und eine gute Nachricht zum Schluss: auch Frauen mit zu wenig Brustdrüsengewebe können mit richtiger Vorbereitung recht wahrscheinlich voll stillen. Denn die Natur hat sich mit zwei Brüsten auch auf Zwillinge gut vorbereitet.
Bei Fragen zu Ihrer persönlichen Stillfähigkeit und den Grundlagen eines guten Stillstartes frage Deine Still – und Laktationsberater*in IBCLC:
https://www.stillen.de/fuer-eltern/laktationsberatung-finden/
https://www.bdl-stillen.de/fachpersonal/stillberatungssuche/
Hier findest Du weitere Teile zu unserer Serie "Ammenmärchen überer das Stillen":
Teil 1 – Wir räumen auf mit Ammenmärchen
Bald online:
Teil 3 - Die ersten Tage ist nicht genügend Milch da?
Teil 4 – Formula ist heutzutage doch genauso gut wie Muttermilch
Dieser Blogbeitrag ist von Eva Vogelgesang
IBCLC, EFNB, Trageberaterin, Fachkinderkrankenschwester auf der Neonatologie - Kinderintensivstation des Klinikums Saarbrücken